Klassik der Musik: Tönender Diskurs - Musikalischer Prozess

Klassik der Musik: Tönender Diskurs - Musikalischer Prozess
Klassik der Musik: Tönender Diskurs - Musikalischer Prozess
 
Musikalische Form ist in Tönen gestalteter Prozess, dessen Mittel historisch bedingt sind. Die Formen der Wiener Klassiker wie Menuett, Rondo und vor allem die Sonatensatzform sind nicht nur das Resultat sich neu bildender Satzprinzipien, sondern zugleich und untrennbar davon Reflex eines neuen Verständnisses von musikalischem Prozess. Der Satz wird kleingliedrig und operiert mit der Möglichkeit des überraschenden, spontanen Kontrastes, der gleichwohl in ein »einfaches«, normatives Bauprinzip eingebunden bleibt: das einer hierarchischen, in Paaren gegliederten metrischen Taktordnung. Auf dieser Grundlage wird gestalterische Spontaneität vor Willkür bewahrt. Die im kompositorischen Denken der Wiener Klassiker angestrebte (dialektische) »Aufhebung« von Kontrast und Einheit ist also schon auf der untersten Ebene des musikalischen Satzes verwirklicht.
 
Mit der raumgreifenden Gestaltung einfacher harmonischer Spannungs- und Entspannungsverhältnisse einher geht die Gliederung des musikalischen Prozesses in zwei zunächst grundsätzlich entgegengesetzte Arten des Satzgefüges: der thematischen und der nicht-thematischen. Der harmonische Prozess, der vor allem von der Spannung zwischen den beiden Kadenzstufen Tonika und Dominante bestimmt wird, verlangt zum einen nach Etablierung dieser jeweiligen harmonischen Stationen. Dies geschieht durch Besetzung mit entsprechend prägnanten »Gestalten«, »Einfällen« oder »Themen«. Themen sind musikalische Einheiten, die durch ihr metrisches Gefüge eine gewisse gestalthafte Festigkeit und daher eine besondere Wiedererkennbarkeit besitzen. Themen kennzeichnen und befestigen die wichtigsten Stationen im Satz: den Anfang mit der Setzung der Grundtonart sowie die Stelle des höchsten Spannungsbogens bei Erreichen der Dominanttonart. Zum anderen wird der musikalische Prozess eben durch das Fortschreiten von der einen zur nächsten Station bestimmt, und dies geschieht in klassischer Musik durch Ableitung oder Kontrast. Ableitung bedeutet das Heraustrennen einzelner musikalischer Einheiten aus dem vorangegangenen Thema und deren neue, lockerer gefügte Kombination mit Variantenbildungen oder anderen thematischen Einheiten; Kontrast bedeutet die Bildung eines spezifischen Gegensatzes und darin ebenfalls eine (nur besondere) Form der Ableitung. Die kleinsten musikalischen Einheiten, meist eines der metrischen Paarglieder, sind die »Motive«, deren thematische Herleitung, Kombination und Fortentwicklung auch als motivisch-thematische Arbeit bezeichnet wird. Mit ihr wird der musikalische Prozess vorangebracht. Die »motivisch-thematische Arbeit«, die in ihrem Satzbau der Umschreibung oder Entfaltung einer bestimmten, dem Thema eingestalteten Idee folgt, entspricht also einem Prozess im engeren Sinne, wogegen die Themen selbst eine vergleichsweise stationäre, bestätigende Funktion ausüben.
 
Die Bildung von Themen ist aber nicht nur im Prinzip der (primär) harmonischen Gliederung begründet, sondern auch durch den Gedanken der Identität und Individualität. Indem das Thema eines Satzes oder Werkes zu dessen »hervorragendem« Formelement wird, erhält es Bedeutung für die Gesamtform (beziehungsweise den Gesamtprozess). Indem das Thema ferner den das Werk oder den Satz identifizierenden und individuellen Einfall »verkörpert«, wird es zum »Sinn«-Träger. Und indem das Thema zunehmend durch Ableitungen und motivisch-thematische Arbeit die Herrschaft über den Satz (oder Satzteil) erhält, wird der Satz zunehmend individualisiert; das Satzgewebe, der musikalische Prozess, ist gleichsam mehr und mehr vom Thema und seiner besonderen Gestalt »durchwirkt«. Allein die Vorstellung zum Beispiel des ersten Themas aus Mozarts g-Moll-Sinfonie (KV 550) oder das bekannte »Schicksalsmotiv« aus der Fünften von Beethoven reicht aus, um sich einen Eindruck vom Ganzen zu machen.
 
Durch die besagte Befähigung der Satzstruktur zu Kontrast und Veränderung wird jedoch trotz des Prinzips der thematischen Einheit der Satzprozess fortwährend beweglich und abwechslungsreich gehalten. Dazu trägt auch die Einbeziehung des Instrumentalensembles und seiner Farben bei, besonders in der Kompositionstechnik der »durchbrochenen Arbeit«. Überhaupt liegt im »Aufbrechen« der Einheit, im Wechsel, im überraschenden Kontrast oder spontanen Einfall das besondere Gestaltungsvermögen klassischer Musik, und zwar ohne dass dabei die Bindung an die metrische Struktur und die Herrschaft des Thematischen verloren ginge.
 
Die entwicklungsgeschichtlich zunehmende Dominanz des Thematischen und die Dichte des musikalischen Gefüges führen aber (vor allem bei Beethoven) dazu, die Differenz zwischen thematischem und nicht-thematischem Satz aufzuheben und zugleich den harmonischen Prozess zu erweitertern. Es werden kurze, jedoch um so prägnantere »Einfälle« an den Anfang gestellt, die den Satz anstoßen und dann in fortwährendem Verarbeiten und Erneuern, Wiederholen und Verändern, Gruppieren und Gliedern, Steigern und Zurücknehmen durch alle Stationen der Form, die freilich stets erkennbar ausgeprägt bleiben, den musikalischen Prozess gestalten. Man nehme auch hier den Kopfsatz von Beethovens fünfter Sinfonie: Das »pochende« viertönige Einstiegsmotiv bestimmt den gesamten Satz, ja sogar die ganze Sinfonie, und es ist eine besonders aufwendige Leistung, trotz dieser Omnipräsenz ein und desselben Motivs eine Riesenform ohne die geringste Monotonie entstehen zu lassen.
 
Der musikalische Prozess bei den Wiener Klassikern beruht auf einer reinen, musikalisch-immanenten »Logik«, deren tönender »Diskurs« vom Hörer (und Spieler) verstehenden Mitvollzug verlangt. In ihrer kleingliedrigen, metrisch-sprachlichen, »einfachen« und zugleich sanglichen Anlage wendet sich die Musik der Wiener Klassiker gewissermaßen unmittelbar an den Menschen und sein (auch) sprachliches Verstehensvermögen. In der diskursiven Form der Themensetzung und -verarbeitung, in der motivischen »Umschreibung« eines exponierten (thematischen) Gedankens, des spontanen Wechsels und Beleuchtens sowie in der gleichwohl vorbedachten, argumentativen Zielorientierung entspricht der musikalische Prozess klassischer Musik einer tönenden Abhandlung über ein »Thema«, die mitzuvollziehen und zu »verstehen« ist, mitvollzogen und verstanden werden will. Man weiß beim Hören jederzeit, an welcher Stelle der Form sich der Prozess befindet, erkennt rückblickend den Weg und ahnt vorausschauend den Fortgang.
 
Die Orientierungssicherheit klassischen Formprozesses ist zugleich Gegenstand des kompositorischen Kalküls. Der Komponist spielt mit Erwartungen, deren Erfüllung und Enttäuschung. Nur so können Spontaneität und normative Bindung einander aufheben und doch formbildend wirken. An der Sonatensatzform wäre dies exemplarisch deutlich zu machen. Vor allem die Dualität ihrer Themen: Hauptthema der Grundtonart und Seitenthema der Dominanttonart, bewirkt ihre innere Logik, das Maß ihrer Befähigung zu motivischen Ableitungen, ihres »dramatischen«, handlungsbestimmenden Potenzials, die Art ihres gegenseitigen Sich-Ergänzens oder Widersetzens, die Art ihrer »Durchführung« sowie die Gestaltung ihrer Rückführung und ihres harmonischen Ausgleichs in der Reprise - dies alles ist individuelles Ausführen eines Norm gewordenen Prozesses mit jeweils neuem, eigenem musikalischem Stoff. Dazu gehört vor allem auch der Bau der Themen und ihre materiale Schicht. Die Unterschiede der Komponisten und ihres entwicklungsgeschichtlichen Ortes ließen sich hier am ehesten bestimmen.
 
Als prägnantes Beispiel könnte Beethovens dritte Sinfonie »Eroica« und deren Hauptthema dienen. Dem Beginn nach ein »klassisches« liedhaftes, periodisches Dreiklangsthema, setzt es doch durch einen einzigen Ton, das überraschende, langgedehnte »cis« im siebten und achten Takt, ein Störmoment, das gleichsam ein Signal des neuen Konzepts ist. Es bricht die Metrik und Hermetik des Themas auf, wendet den Anfang ins (harmonisch) Ungewisse und öffnet ihn mit einem Impuls, der immerhin den bis dahin bei weitem längsten aller sinfonischen Kopfsätze anzustoßen und in Gang zu halten hat. Im übrigen ist dieses cis ein Ereignis, das gleichsam von außen zu kommen scheint, unvorhersehbar (wenn nicht die Tuttischläge ganz zu Anfang schon Besonderes andeuten würden) und darin »charakteristisch«. Damit erfüllt es eine Funktion, die ebenfalls neu ist, wenngleich der Tradition verbunden: Der Bruch mit dem Erwarteten ist von einer bis dahin nicht bekannten Eigenwilligkeit und Individualität, wie sie sich dem gesamten Werk mitteilt. Die Individualität der Themen und ihrer Verarbeitung, der tönende Diskurs, erhält ein neues Maß an Charakteristik, einer Charakteristik, die nach Erklärung, ja sogar nach Beschreibung zu verlangen scheint.
 
Prof. Dr. Wolfram Steinbeck
 
 
Dahlhaus, Carl: Klassische und romantische Musikästhetik. Laaber 1988.
 
Die Musik des 18. Jahrhunderts, herausgegeben von Carl Dahlhaus. Sonderausgabe Laaber 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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